Der neue Nutzen: Biogemüse statt Baulücke

Ein Garten, der wandern kann – die Idee klingt paradox. In Berlin wurde sie vor vier Jahren Wirklichkeit. Seit immer mehr Menschen in der Stadt gärtnern und ihr eigenes Gemüse anbauen, gestaltet sich die Suche nach geeigneten Parzellen schwierig. Zwei findige Berliner haben daraufhin ein Konzept entwickelt, städtisches Brachland urbar zu machen – zumindest zeitweise. Sie entwickelten die Idee des mobilen Gartens. Wenn sich nur kurzfristige Pachtverträge für Grundstücke abschließen lassen, weil die Verpächter sich Bauoptionen offen halten, müssen die Beete beweglich sein – so die Schlussfolgerung von Robert Shaw und Marco Clausen. Sie wählten genormte Europaletten und packten darauf zwei Lagen à vier Kunststoffkisten. Jedes Beet besteht demnach aus einer Fläche von 120 x 80 Zentimetern, und es lässt sich per Hubwagen und Gabelstapler an jeden x-beliebigen anderen Ort abtransportieren. Schließlich sind rund Hundert dieser Beete in Kreuzberg am Moritzplatz entstanden. Shaw und Clausen konnten dort eine 6000 Quadratmeter große Brachfläche von der Stadt pachten. Sie nannten ihr Projekt »Prinzessinnengarten«, in Anlehnung an die benachbarte Prinzessinnenstraße.
Das Pfiffige daran: die Kistenstapel werden wie Hochbeete mit Strauchschnitt, Bioabfällen und feiner Komposterde befüllt. Diese Idee stammt von einem Biobauern, um Grünabfalle zu recyceln, die in der Stadt anfallen. Zudem lassen sich Fruchtfolgen und Anbaupläne auf der knapp 100 Quadratmeter großen Beetfläche realisieren. Sackt der Inhalt der unteren Kiste, wird einfach nachgefüllt, indem man die obere Kiste anhebt. Den Kompost erhält das Projekt von einer städtischen Kompostanlage. Alles wird den Maßstäben des Bioanbaus gerecht, denn die Nachfrage nach ökologischen Salaten, Kräutern und seltene Gemüsearten ist unter den Stadtbewohnern riesig. Mittlerweile wird eine eigene Erde gemischt, die genau auf die Verhältnisse in den Kisten abgestimmt ist. Mehr als 20 Tomatensorten, Kartoffeln und Kohl werden darüber hinaus in weißen Reissäcken aufgepäppelt.
Jeder Mensch kann sich im Garten engagieren und Verantwortung übernehmen. Es funktioniert nach dem Prinzip der Schwarmintelligenz: Leute tauchen auf und bringen ihr spezielles Wissen in das Projekt ein, darunter sind erfahrende Schrebergärtner, über Generationen in der Selbstversorgung geübte Russen, Türken und Mitbürger anderer Kulturen sowie mit Unidiplom ausgestattete Akademiker.

In Berlin bildet ein Café mit angeschlossener Küche das Herzstück und den soziale Mittelpunkt der gesamten Anlage. Hier werden hunderte verschiedener Gartenerzeugnisse als kulinarische Überraschungen unter die Leute gebracht. Allein im Frühjahr gedeihen neben Radieschen, Rettichen, Erbsen und Bohnen etwa 35 unterschiedliche Salate auf den Beeten. Im Sommer, wenn es für Blattsalate zu heiß wird, folgen Neuseeländerspinat, Asia-Salate und diversen Melden, so dass für gemischte Salate immer ausreichend Grün zur Verfügung steht. Die Köche richten ihre Kreativität gänzlich am Angebot des Gartens aus. Sind gerade viele Zucchiniblüten reif, werden diese abends mit einer Ricotta-Chili Füllung, Minz-Zucchini und Zitronenrisotto angeboten. Auch die Pizza wird zu einer sich täglich verändernden Delikatesse, die zum Beispiel mit bunten Kartoffeln, Möhren, Gurke, Kräutern, Asia-Salaten sowie Blütenblättern von Ringelblumen und Borretsch belegt sein kann. Abends kommen die Leute nach der Arbeit vorbei, sitzen um die Biertische, plaudern, machen Musik, trinken oder träumen einfach unter den jungen Pappelschösslingen in den Sommerabend hinein, während das Zirpen der Grillen den Autoverkehr in unwirkliche Fernen rückt.

Die Idee des mobilen Gartens verbreitete sich inzwischen bundesweit. Viele Initiativen findet man unter Gartenpiraten.net. Diejenige in Hamburg hat sich vor zwei Jahren im Stadtteil St. Pauli auf dem Dach einer Parkgarage niedergelassen. Die Gärtner sind gänzlich unabhängig vom Untergrund und können mit Sack und Pack weiterziehen.


MB September 2022
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